Onken Academy –
Das O & A der Bildung

Von Sonnenblumen und kaputten Flügeln

08. Jun 2020Maya Onken
Sonnenblume und Schmetterling

Meine Mutter erzählte mir immer, jeder Mensch hätte ein geheimes Blütenkonzept von der Schöpfung mitgegeben bekommen. Die einen sollten Tulpen werden, die anderen Sonnenblumen. Und das um jeden Preis. Doch hätte die Umwelt oft was anderes vor. So möchten die Eltern lieber ein Veilchenkind. So ein liebliches Bodendeckerchen, welches gut duftet und niemanden stört und nennen es deshalb Viola. Und dann zeigen sich die ersten markanten Merkmale der kleinen Viola: Charakter, Eigenschaften, Kräfte, Triebe. Sie ist robust, offenherzig, laut und sonnenblumengelb. Sofort intervenieren die Eltern und schneiden die ersten gelben Blüten ab. «Viola, sei ruhig. Sei ein sanftes Mädchen. Sei nicht so auffällig.» Das wird Viola noch hunderte von Male hören. Sie wird ganz klar spüren, dass sie so, wie sie ist, nicht erwünscht ist. Dass sie anders sein sollte. Und weil jedes Kind die Liebe und Akzeptanz der Eltern braucht, wird sie sich anpassen. Gegen ihre Natur. Sie wird sich zurücknehmen, sie wird weniger Fussballs spielen und mehr häkeln, sie wird leiser sprechen, sie wird ihre grossen Bewegungen verkleinern und sich je länger je mehr von ihrer Vorsehung abwenden. Sie wird den Beruf einer Viola wählen und den Ehemann dazu. Sie wird vielleicht nur noch in ihren Hobbys ausleben können, was wirklich in ihr steckt. Und ein Teil in ihr ist unglücklich und beschnitten.

Glücklicherweise können wir darauf vertrauen, dass irgendwann, spätestens um die Lebenshälfte herum der vergessene Teil wieder aktiv wird. In einem wird es unruhig. Die gelben Blütenblätter der Viola fangen einfach an zu wachsen. Sie lassen sich nicht mehr in die kleinen dunklen Formate einwickeln. Sie brechen durch. Manchmal gewaltsam und vulkanartig. Manchmal langsam, unmerklich und unabwendbar.

Es ist eine Zeit des Wandels. Wir verpuppen uns. Und im Kokon wird heftig gearbeitet. Die Ursprungsform wird erforscht, überprüft. Optionen, ob die gelben Blätter nun einer Tulpe oder einer Butterblume gehören werden innerlich erörtert. Nein, es soll eine Sonnenblume werden, wird festgestellt. Das Sonnenblumenprogramm wird hinterfragt, auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt. Dem Kokon wachsen erste Füsschen, wir versuchen erste Schritte. Sind aber noch im Kokon und können nicht testen, ob Sonnenblumen ein tolles Leben haben. Es braucht das Ausschlüpfen. Auch das ist schmerzhaft. Und weil niemand leiden will, verharren wir noch etwas länger im dunklen Ungewissen.

Wer schon mal einem Schmetterling zugesehen hat, wie er sich zwängt, würgt, zerrt, stockt, feststeckt, presst, stösst und drückt, kennt diese Geburtsschmerzen.

Dazu gibt es die schöne Geschichte, dass ein Beobachter diesem Vorgang zusah und es nicht mehr aushielt, diesem Leiden beizuwohnen. Es schien, als würde der Schmetterling aufgeben, er verharrte bewegungslos zwischen Kokon und freiem Leben. Ein Flügel war irgendwie verklebt. Der Beobachter nahm ein kleines Stäbchen und weitete vorsichtig das Loch im Kokon, so dass der Schmetterling vollends ausschlüpfen konnte. Nun entschlüpfte der Schmetterling schnell und leicht und war ein Krüppel. Ein Flügel war zu kurz und er konnte damit nur flattern und nicht fliegen.

Was der Mann in seiner Güte und in seinem Wohlwollen nicht wissen konnte, war, dass das Ringen des Schmetterlings erforderlich ist, um durch die kleine Öffnung zu kommen. Es ist der Weg der Natur, um Flüssigkeit vom Körper des Schmetterlings in seine Flügel zu befördern. Dadurch wird er auf seinen Flug vorbereitet.

Das heisst für uns: Vertrau auf deine Anlagen. Vertrau auf die Zeit, die es braucht, sie zu entdecken und sie auf die Welt zu bringen. Es gibt unterschiedliche Zeiten und Phasen des Verwandlungsprozesses. Es gibt oberflächlichen Stillstand, in dem trotz allem etwas vorbereitet wird. Es gibt aktives Verpuppen und es gibt Zwängen, blockiert sein und Weiter wursteln.

Bei vielen Geschichten endet das Erzählen bei dem Moment, wo der Schmetterling geschlüpft ist. Es ist sozusagen das Happy End. Ich bin da anderer Meinung. Hier fängt das nächste Kapitel der Geschichte erst an. Denn wenn eine ehemalige Raupe auf einmal die Welt durchfliegt, kann das wirklich sehr unheimlich sein. Das Tempo ist neu. Die Perspektiven auf die Welt sind anders. Die Möglichkeiten machen zuerst Angst, dann Freude. Auch hier haben die Veränderungen noch lange Auswirkungen. Und manch Schmetterling wünschte sich ganz rasch zurück in sein unauffälliges Dasein von früher. Denn jetzt rennen die Kinder einem nach und wollen einem fangen, vorher wandten sie sich ekelerregt ab. Damit muss man zuerst umgehen können.

Und natürlich gibt es in diesem Kapitel auch die Höhenflüge. Wenn der Schmetterling sich befreit von alter Schwere Pirouetten tanzend in die Lüfte schwingt, über Blütenwiesen schwebt, an verschiedenen Blumen nascht und sich vom Sonnenschein küssen lässt.

Zurück zu Viola. Wir haben als Taufgeschenk verschiedene Begabungen mit auf die Welt bekommen, die es zu entdecken gilt. Es ist ein Auftrag an uns, diese zu finden und zur Blüte zu bringen. Und das ist manchmal eine lebenslange Mission, die viel Veränderung, Verpuppung und Neugestaltung mit sich bringt. Immer wieder.

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