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Schuldgefühle – ein Toxikum mit Vollwirkung

23. Feb 2023Maya Onken
Toxikum mit Vollwirkung

Als sich meine Eltern trennten, habe ich zum ersten Mal in meinem Leben das Elixier «Schuldgefühle» kennengelernt. Leider kündigt sich das Getränk und seine Wirkung nicht an wie ein Knallen eines Pfropfens, sondern es ist eher, wie wenn dir im Vorbeigehen jemand eine kleine feine Spritze setzt, die gelbe Flüssigkeit sich in deine Blutbahnen begibt und sich langsam in den ganzen Kreislauf einfärbt. Ohne es gross zu merken, trägst du den ganzen Komplex Schuldgefühle nun bei dir – Tag und Nacht.

Merken kannst du es anhand von Gedanken wie «Wenn ich nicht gewesen wäre, dann…», «Wenn ich das besser gemacht hätte, dann...», anhand von Zweifeln an dir und deinen Taten, anhand von Emotionen (kurzes Aufflackern von Trauer, von Tränen, von Unbehagen, von sich winden, von wegrennen wollen oder kämpfen wollen, von Aggression oder Wut).

Das Ganze ergibt bei nüchterner Betrachtung keinen Sinn. Wenn du Ereignisse und Handlungen unter das Mikroskop legen würdest, dann hätte alles seine Ordnung. Wenn wir uns fragen würden, wer trägt wirklich die Verantwortung für Worte, Handlungen und Taten, dann wären wir frei von Schuld und Schuldgefühlen.

Denn damals haben sich zwei erwachsene Personen entschieden, nicht mehr ein Paar sein zu wollen. Meine 11-jährige Wenigkeit kann unmöglich dazu beigetragen haben, dass die zwei das so wollten. Denn ich war zwar voller Energie, aber keinesfalls aufsässig oder ein Liebestöter. Es grenzt also sogar etwas an Grössenwahn anzunehmen, dass ich schuld hätte sein können an so einem grossen Entschluss.

Leider hatte ich damals keinen Zugang zu einer solch vernünftigen Überlegung und Betrachtung. Da wir das alles unbewusst annehmen, haben wir keinen Zugang zu einer Analyse. Ohne ein bewusstes Hinterfragen und Analysieren passiert der Impfvorgang mit Schuldgefühlen ganz von alleine.

Noch schlimmer, es können Blutgerinnsel entstehen, krebsgeschwürartige Ballungen von Schuldgefühlen aus einer oder vieler Spritzen kumulieren sich. Das ist nun auch von aussen sichtbar. Menschen sind definitiv nicht mehr in ihrer Kraft. Sie haben keinen geraden Gang mehr, sind fahrig, unklar in Wort und Tat, stets mit sich am Hadern und Zweifeln und tun sich schwer mit Entscheidungen. Wenn es um sie selbst geht, dann wird es ganz schlimm. Sie trauen sich nichts zu, leiden unter minimem Selbstwertgefühl, haben meist Null Selbstfürsorge, weil alles, was mit dem Wort SELBST beginnt, von Schuldgefühlen angegriffen und meist auch gleich umgebracht wird.

Noch schlimmer, Schuldgefühle sind vererbbar und leben manchmal jahrelang in Familien- oder Firmensystemen.

Damals glaubte ich, dass ich schuld daran sei, dass sich meine Eltern trennten. Leider dachte ich das nicht, sondern ich fühlte es nur. Denn wenn ich es bewusst wahrgenommen hätte, hätte ich vielleicht eine Chance gehabt, es zu verbalisieren, es zu analysieren, es anzuschauen, es loszuwerden. Weil ich es aber nur fühlte, hat sich diese Schuld in meine Blutbahnen eingenistet und floss rund 30 Jahre lang in mir. Aus dieser Schuld heraus entstanden viele Taten wie z. B. die tatkräftige private und berufliche Unterstützung meiner Mutter, ein Verharren in der eigenen Ehe aus Angst vor erneuter Schuldanhäufung, ein Versuch des Abbaus der Schuld durch übermässige Grosszügigkeit im beruflichen Sektor. Man sieht, der kleine Nadelstich hatte grosse Folgen.

Nun habe ich mich getrennt und kürzlich kam der Gedanke auf, diese Trennung hätte auch bei meinen Töchtern die Nadel gesetzt. Ich hoffe sehr, dass sie wissen, dass ich alleine die Verantwortung trage.

Ich habe mich entschieden zu gehen. Dazu stehe ich hin.

Wie wunderbar wohlig es sich anfühlt, wenn jemand sagt: ich trage die Verantwortung für mich und mein Handeln!

Damals haben meine Eltern das nicht gemacht oder gesagt. Vielleicht hätte es geholfen. Denn das Gemeine an Schuldgefühlen ist, dass sie eine zusätzliche Möglichkeit schaffen, sich selbst langsam zu vergiften mit ihnen. Es ist nicht, dass jemand extern dir die Nadel setzt. Es ist in DIR angelegt.

Wir alle haben unsere Vorstellungen wie wir, die andern und die Welt zu sein haben. Gesellschaftliche Normen, kirchliche Vorgaben, das Elternhaus, Erziehung, Geschichte, eigene Werte, das alles spielt mit an dieser Kreation.

Diese Welt ist unsere IDEAL-Welt. Da wollen wir hin. Meist sind wir da sehr ambitiös. In dieser Welt sind wir klug, gerecht, liebend, grosszügig, geduldig, intelligent, erfolgreich und FEHLERFREI.

Doch dann müssen wir erfahren, dass wir eben einfach Menschen sind. Wir sagen was Blödes, tun was Unvernünftiges, treffen eine Entscheidung, und das Resultat ist ein anderes als geplant. Und schon sind wir abgewichen vom Ideal.

Wir befinden uns im JETZT. In der realen Welt. Mit uns mitten drin, mit allen Unvollkommenheiten, unlogischen Emotionen, triebgesteuerten Handlungen und unglücklichen Folgen.

Frage dich:
Was passiert mit der Differenz von der Idealwelt zur Realwelt? Wie gehst du damit um? Bist du locker und grosszügig mit dir? Kann doch mal passieren. Easy. Schwamm drüber. Das nächste Mal weiss ich es besser.

Oder gehst du hart mit dir ins Gericht? Findest du dich idiotisch, unmoralisch, wertlos und nicht liebenswert? Die meisten machen genau das. Und in diesem Moment hast du dich selbst gestochen mit der Nadel. Du hast dich selbst im Gerichtssaal als schuldig befunden, meinst, falsch gehandelt oder gedacht oder geredet oder gefühlt zu haben. Der heruntersausende Richterstab bestärkt dein Urteil «Für schuldig befunden».

Wenn wir es nochmals ganz analytisch betrachten, kommt es viel häufiger vor, dass wir uns selbst für schuldig befinden als unser Umfeld. Im Prinzip kommt es eher selten vor, dass dir jemand an die Brust tippt und dich anschreit «Du bist schuld, dass…..». Nein, meist ist es so, dass du es einfach DENKST.

Es gibt logische Schlussfolgerungen von Schuld. Du fährst mit dem Auto über den Zebrastreifen und streifst dabei einen Fussgänger. Ja, hier bist du schuld an seinem Beinbruch.

Ich kündige einer Angestellten das Arbeitsverhältnis. Sie kann zu Hause erzählen: «Maya ist schuld an meiner Kündigung.» Das wäre eine einfache Erklärung für das Vorgehen. Aber auch eine sehr banale. Denn die Frage, wie es denn zu einer Kündigung kommt, wird nicht gestellt. Ich könnte bei mir zu Hause sagen: «Sie ist schuld, dass ich ihr die Kündigung aussprechen musste.» Das wäre ebenso banal. Hier wäre ein mutiger Blick in Muster, Abläufe und Kommunikation sinnvoll. Auch die Frage: «Was ist mein Anteil daran, dass die Zusammenarbeit nicht glückte?» wäre für eine Weiterentwicklung und für einen verantwortungsvollen Umgang mit einer Kündigung sinnvoll.

Aber ich schweife ab. Ich komme zurück.

Schuldgefühle, egal, ob sie von aussen via Nadelstich injiziert werden oder durch die Abweichung vom Idealbild selbst erzeugt werden, sind toxische Gefühle, die niemandem was bringen. Nicht dir, nicht dem andern, nicht der Welt.

Schuldgefühle entstehen nicht nur in Krisen oder Streitigkeiten oder schwierigen Situationen. Sondern auch in Glücksmomenten und Erfolgsfeierlichkeiten. Unbewusste Gedanken wie «Oh ich bin so glücklich, und meine Schwester nicht, das ist nicht fair» oder «Darf ich erfolgreicher sein als meine Eltern» sind häufig anzutreffen bei positiven Events.

Schuldgefühle halten klein. Sie hindern uns auch daran, für etwas gerade zu stehen, die Verantwortung zu übernehmen, uns abzugrenzen. Manchmal schweissen sie uns aber zu einem Clan (WIR ALLE sind voller Schuldgefühle, du auch?) und wenn wir die Schuldgefühlswelt verlassen, verlasen wir eben auch den Clan.

Schuldgefühle werfen uns aus der Bahn, aus unserer Kraft, schwächen uns, verhindern vernünftige und analytische Gedanken, haben Folgewirkungen auf Beziehungen, Entscheidungen, Selbstfürsorge und Gesundheit.

Gegenmittel bei Schuldgefühlen:

1. Erkennen: Zuerst einmal merken, dass man Schuldgefühle hat. Woran erkennst du die bei dir? An welchen Gedanken und Emotionen und Handlungen erkennst du sie?

2. Die Analyse: Wer und was ist an der aktuellen Situation wie beteiligt? Wer macht das System aus? Welche Muster zeichnen sich ab?

3. Fragestellungen (einige, ist keine abschliessende Liste)

Die Frage: Wer soll welche Verantwortung übernehmen? Was ist sinnvoll?

Die Frage: Für welchen Teil der Geschehnisse kann und soll ich Verantwortung übernehmen?

Die Frage: Gibt es durch Übernahme der Verantwortung Folgehandlungen und Massnahmen?

Die Frage: Welche Auswirkungen hat es auf das System, wenn ich meinen Teil übernehme und die anderen Teile liegen lasse?

Die Frage: Angenommen, Schuldgefühle hätten auch was Positives, was wäre das?

Die Frage: Angenommen, ich wäre frei von Schuldgefühlen, welches Problem hätte ich dann?

Die Frage: Angenommen, ich wäre frei von Schuldgefühlen, welche Personen würde ich damit brüskieren und welche Handlungen würden anstehen?

Es ist mir klar, das alles so cool und einfach tönt und es das ÜBERHAUPT nicht ist. Und wer das nun liest und weiss, dass man die Schuldgefühle nicht so schnell los wird, weicht schon wieder ab von der Idealwelt und wer weiss, vielleicht kreiert nun ein solcher Text schon wieder neue Schuldgefühle.

Wir sollten also noch zwei weitere Massnahmen angehen:

1. Richte dir ein Schuldgefühlkonto ein

Du hast so richtig viel (Geld, Blusenknöpfe, Pralinen etc.) davon auf dein Konto eingezahlt. Jedes Mal, wenn du Schuldgefühle hast und sie bemerkst, buchst du das auf deinem Konto als «normal, so ist das Leben» ab.

2. Selbstfürsorge im Schnellzugriff
Erstelle eine Liste mit einfachen, schnell zugänglichen Dingen, welche du zücken kannst, um dich zu beruhigen, mit dir selbst versöhnen, es gut mit dir meinen, wenn du merkst, dass du Schuldgefühle hast. Das letzte, was wir brauchen, ist unsere eigene Schelte. Sondern wir sollten dann besonders lieb zu uns sein. Uns ein heisses Schaumbad gönnen, einen leichten Liebesfilm, einen langen Spaziergang, einen Gang zur Sauna, einen feinen Dessert, einfach etwas, womit wir uns ganz bewusst was zu liebe tun. Denn Schuldgefühle haben ist super streng und ungemütlich. Dann sollten wir uns entspannen und uns nicht noch auspeitschen und mit Selbstvorwürfen bestrafen und heruntermachen.

So gesehen sind Schuldgefühle Chancen, sich alles genauer unter die Lupe zu nehmen und einen Schritt weiter zu kommen an Erkenntnis und Veränderung.



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