Ich gebe es zu, wenn ich nach meinem Alter gefragt werde,
bin ich stets kurz irritiert.
Denn was in mir alles zu dieser Frage abgeht, braucht einige
Sekunden:
Zuerst suche ich mein biologisches Alter. Ich bin jeweils
unsicher, ob ich die Zahl von meinem letzten Geburtstag angeben soll oder die
vom kommenden. Oder ob es besser ist, den Jahrgang zu nennen, damit das
Gegenüber selbst rechnen muss.
Diese Zahl scheint mir jeweils unwirklich hoch und nicht
passend zu meiner inneren Gefühlswelten, die andere Ergebnisse aufweisen.
Da ich aufgrund von gutem Eincremen seit meinem zwanzigsten
Lebensjahr und meiner eher energiereichen Ausstrahlung einige Jahre
wegschummeln könnte, erwäge ich auch noch kurz die Option des Flunkerns. Aber
für was?
Es gewinnt immer die faktische Wahrheit. Ich bin zurzeit 55
Jahre alt.
Es ist eine nackte Zahl, die meiner inneren Überprüfung
nicht standhält, denn:
- Energie habe ich ohne Ende. Ich fühle mich jung,
dynamisch und abenteuerlustig.
- Mein Körper ist nicht immer dieser Meinung. Er
braucht einige Zeit, um sich von einer Tanznacht zu erholen. Das ist neu für
mich und aus Vernunftsgründen nehme ich diesen Tatbestand in meinen Lebensstil
auf und bleibe einen Abend am Wochenende zu Hause.
- Meine Vernetzungsdichte im Hirn von
Erkenntnissen, Erlebnissen und Erlerntem fühlt sich älter an. Ich habe das
Gefühl, als sässe ich in einem Garten, um mich herum prall gefüllte
Früchtekörbe. Ernte aus all den Jahren von Lernen, Dozieren, Lesen und Schreiben,
Fühlen, Reden und Reflektieren. Im Hintergrund die ganze Baumallee, wo der
nächste Nachschub für die Behälter vor mir nachwächst. Ein wertvoller Reichtum,
eine nicht mehr versiegende Ressource.
- Das alles packt die äussere Hülle in einen
Zustand ein. Hier noch straff und da schon runzlig. Hier mit einer Delle am
Oberschenkel, da am Kinn mit unnötigen weissen und schwarzen Borstenhaaren
versehen. Die Haare weiss nachwachsend, die Augen mit vielen kleinen Linien
umkreist. Der Lippen in feine Rinnen verlaufend, Oberarme, die beim Winken
nachwippen. Auch sie passt nicht zusammen zu all den Innenwelten.
- Und zwischen all diesen Alterszuständen klettert
mein Herz herum. Mal wild pochend jugendlich forschend. Dann leise atmend in
Altersweisheit. Dann nach Pause verlangend oder nach Futter suchend.
All diese Dissonanzen und Unterschiede, soll ich nun mit
einer einzigen Zahl beantworten? Das ist unmöglich. Ich bin 55 Jahre alt. Nein!
Ich bin emotional 40 Jahre alt, mein inneres Wissen ist
mindestens 60 und meine Lust auf Leben erst 30. Die Hülle, die das ganze
verpackt, ist seit 55 Jahren auf dieser Welt. Das wäre die präzise Auskunft zur
Frage.