Alles fing mit einem klaren Entscheid an. «Nein, dieses Kind lass ich mir nicht nehmen!» Dies war die Ansage an die schockierte Familie, die sich das ungeborene Kind eines 60-jährigen Mannes schämte. Und dies aus dem Munde meiner angepassten, dienstfertigen, unterwürfigen, harmoniesuchenden und freundlichen Grossmutter, die zum ersten Mal in ihrem Leben stur und widerborstig war.
Ich persönlich danke ihr an jedem Tag für diese Widerstandskraft, denn ohne diese gäbe es weder meine Mutter noch die davon abgeleiteten Generationen.
So kam es, dass meine Mutter am 1. Mai 1942 auf die Welt kam, fast unbemerkt, doch mit umso grösserer Mutterliebe empfangen wurde. Das blieb so. Die beiden bildeten eine Einheit und hatten es inmitten des ganzen Familiengetöses friedlich und liebevoll miteinander. Da meine Grossmutter, geprägt durch viele Schicksalsschläge eher ein schweres Gemüt mit sich herumtrug, konnte sich meine Mutter in psychologischer Gesprächsführung und innerem Sonnenschein einüben.
Da das einzige passable Mädchen in Kindertagen zum Spielen geistig zurückgeblieben war, entwarf meine Mutter schon in jungen Jahren erste didaktische Überlegungen, wie sie gewisse Spiele vereinfacht erklären konnte, um dann auch damit Spass zu haben.
Da die ganze Familie aus eher einfachen, praktisch begabten Personen bestand, stillte sie ihren kognitiven Wissenshunger mit Literatur. Sie las alles, was ihr in die Hände fiel und fing schon früh an, selbst zu schreiben: Gedichte, Tagebuch, Geschichten.
Zuerst folgte sie dem Mutterpfad und passte sich an in Schule und Lehre. Dann entdeckte sie bald, dass dieses Mitmacher-Frauen-Modell nicht erfolgsversprechend war. Der rebellische Gedanke, der ihr zur Geburt verhalf, machte sich in ihr breit und sie brach aus: aus Küchenanforderungen, Mädchenlebenspfaden und gängigen Karriereschritten einer Frau.
Bei einem dieser Ausbrüche machte ich ihr jedoch einen Strich durch die Rechnung. Gerade an der Zweitwegmatur und in Vorbereitung für die Schauspielschule machte ich mich bemerkbar. Auch meine Schwester, die vier Jahre später folgte, hielt sie nochmals eine Runde davon ab, sich ihrem Vorwärtsdrang hinzugeben.
Als dann der Begabungsstau stärker wurde, die Ehe komplizierter, die Kinder selbständiger, schlugen ihre frühen Wechseljahrhormone die Mauern jeglicher Konventionen endgültig nieder. Und das Langgehegte, Angehäufte, energetisch Aufgeladene brach aus ihr hervor:
Nun wird Julia Onken achtzig Jahre alt.
Doch wer mit Julia zu tun hat, wird sich wundern!
Und bei der ganzen Julia weiss man auch mit 80 Jahren: Hier ist kein Ende in Sicht.
Wir wissen alle, dass das Leben endlich ist. Doch wer Julia kennengelernt hat, hat dies mitbekommen: Was bei ihrer eigenen Mutter mit dem klaren Entscheid, mit dem JA fürs Leben gestartet hat, hat sie nun übernommen und weiterentwickelt. Ihr JA für ein gutes, erfülltes und sinnhaftes Leben ist ihr Motor und ihre Energie. Und wie sie mir kürzlich versicherte, gedenkt sie, weitere vierzehn Jahre so weiterzuleben.
Wer meine Mutter kennt, weiss, dass sie es ernst meint. Ihr Leben hat mit einem Entscheid gestartet. Und ihr Leben wird mit ihrem Entscheid: «Jetzt reicht es!» enden. Jedoch nicht heute!
Normalerweise wünscht man zum Geburtstag Dinge wie Gesundheit, Freude, Glück, Liebe. Bei meiner Mutter heisst das aber anders:
Liebe Mami, ich wünsche dir weiterhin deinen supergenialen
Selbstkontakt. So lange du mit dir in Berührung bleibst, hast du alles, was du
brauchst: Energie, Humor, Beweglichkeit, Kreativität, Freude, Schaffenskraft
und Göttlichkeit.
In Liebe deine stolze Tochter Maya